Frohes neues Jahr (8)
Silvester. Wir sind bei Gabi und Frank eingeladen. Schatz balanciert eine Schüssel mit Wurstsalat. Ich habe beide Hände voll mit Feuerwerk.
Wir begrüßen uns. Im Wohnzimmer läuft gerade eine Sketch-Sendung. Scheint eine Auswahl aus verschiedenen Sendungen der Siebziger und Achtziger zu sein. Auf dem Sofa sitzt Iris. Schatz entgleisen die Gesichtszüge.
Wir dachten, wir laden Iris ein, flüstert Gabi mit entschuldigendem Blick, sie ist ja sonst ganz alleine.
Frank geht mit mir in sein Arbeitszimmer, wo schon ein Berg von Krachern bereitliegt. Ich lege mein Zeug dazu.
Heute machen wir ein richtig geiles Feuerwerk, sagt er. Wir haben einen Double-Pershing2-Emulator gekauft mit Atompilz-Design.
Atompilz-Design?
Ja, die Raketen machen kleine Atompilze am Himmel.
Sowas gibt’s?, frage ich.
Sogar im Angebot. Jetzt komm, die Mädels warten sicher schon auf uns.
Wir kommen zurück ins Wohnzimmer. Dort ist eine rege Diskussion in Gange.
… eine ziemliche Zumutung, sagt Iris gerade und deutet auf den Wurstsalat.
Sie wusste nicht, dass du auch kommst, versucht Gabi schlichtend einzugreifen.
Dann hättet ihr ihnen Bescheid sagen sollen. Ihr wisst genau, wie ich dazu stehe.
Reg dich ab. Das ist Wurst vom Supermarkt, da ist eh kaum Fleisch drin, sagt Schatz mit leicht genervten Unterton.
Deine Sprüche kannst du dir sparen. Schlimm genug, dass ihr nicht begreift, was ihr der Welt mit eurer Ignoranz antut. Wisst ihr, wieviel Regenwald jedes Jahr gerodet wird, um als Anbaufläche für Soja zu dienen? Und der wird dann verfüttert an die Rinder, damit die schnell wachsen. Und das Klima geht kaputt, weil kein Regenwald mehr da ist, und die Leute gehen kaputt, weil das Futter die Tiere kriegen.
Leute, ruft Frank, lasst uns erst einmal einen Willkommenstrunk nehmen. Ganz sicher vegan, versprochen.
Er holt ein Tablett mit Gläsern. Gefüllt sind sie mit Hugo. Im Fernsehen läuft gerade Loriots Weihnachten bei den Hoppenstedts. Iris wirft einen säuerlichen Blick auf Frank, sagt aber nichts, steht auf und nimmt das Glas. Wir stoßen an. Ich setze mich anschließend auf das Sofa und möchte Loriot schauen.
Habt ihr denn schon Hunger, fragt Gabi vorsichtig. Iris murrt:
Mir ist der Appetit jetzt schon vergangen.
Ich habe extra etwas Veganes für dich. Einen Algensalat mit unserem selbstgebackenen Brot.
Später vielleicht, winkt Iris ab.
Auch wir anderen beschließen, mit dem Essen noch zu warten. Die Nacht ist lang. Frank bringt seine Erdbeerbowle ins Wohnzimmer. Ich kippe schnell den Hugo hinunter und schöpfe mir ein wenig ins Glas. Franks Erdbeerbowle ist unübertroffen. Auch dieses Jahr wieder. Schatz setzt sich neben mich. Iris setzt sich auf meine andere Seite. Auch sie hat schon Bowle im Glas.
Wir sind das Krebsgeschwür der Erde, sagt sie zu mir. Wir machen alles kaputt. Sie hebt ihr Glas: Auf das Ende der Welt.
Sie stoßt mit mir an.
Frank und Gabi setzen sich nun auch. Wir schauen Loriot.
Wann kommt’s denn?, fragt Schatz nach ein paar Minuten.
Kurz nach Neun, sagt Gabi.
Was denn?, will Iris wissen.
Dinner for one, antwortet die Gastgeberin.
Ach so, der alte Kram. Dachte es kommt noch Besuch.
Reichen wir dir nicht, giftet Schatz.
Prost, ruft Frank und hält das Glas mit Bowle hoch. Alle trinken.
Kommt nichts anderes im Fernsehen?, fragt Iris.
Du meinst etwas Veganes?, fragt Schatz in gereiztem Ton.
Weiß nicht, sagt Gabi schnell und tippt auf der Fernbedienung herum. Bei einem Film bleibt sie hängen. Der ist mit Heinz Rühmann. Ich fühle mich gerade unwohl, weil Iris und Schatz sich ständig mit bösen Blicken fixieren. Am liebsten würde ich aufstehen. Aber dann würden sie wahrscheinlich übereinander herfallen. Die hereinbrechende Stille wirkt bedrohlich. Keiner sagt etwas. Ich bete, dass es bald Neun ist. Dass Freddie Frinton über den Tigerkopf stolpert.
Wir haben ein tolles Feuerwerk, wirft Frank in die Stille hinein.
Gott seid ihr uncool, sagt Iris.
Dreißig ist ein schwieriges Alter, denke ich.
Das macht doch heute niemand mehr, der ein bisschen Hirn im Kopf hat, redet sie weiter. Sie hat schon das zweite Glas Bowle und das Reden fällt ihr hörbar schwerer.
Och wieso denn, macht doch Spaß, wehrt sich Frank.
Abgesehen davon, dass das Geld besser in Spenden angelegt wäre, was ist mit dem ganzen Feinstaub? Jetzt verbannen wir endlich den blöden Diesel von der Straße und du produzierst soviel Feinstaub wie ein Auto das ganze Jahr. Danke!
Wieder Schweigen. Frank fällt wohl nichts zur Verteidigung ein. Zum Glück hat er nichts von den Atompilz-Raketen erzählt.
Dinner for One kommt im Fernsehen. Iris nimmt sich noch ein Glas mit Bowle. Sie rückt mir ziemlich nah auf die Pelle.
Die Engländer sind blöd, ruft sie in den Sketch hinein. Ich fliege jedes Jahr nach Indien. Die haben dort alles kaputt gemacht.
Ich dachte du machst immer Urlaub auf Sri Lanka?, fragt Gabi.
Is doch auch Indien. Alles ist Indien. Iris holt mit den Armen weit aus. Ich kann gerade noch rechtzeitig ausweichen, damit ich den einen Arm nicht ins Gesicht bekomme. Ach egal. Ihr seid alle so spießig. Egal! Sie nimmt sich noch ein Glas mit Bowle. Wir wollen den Sketch schauen, doch Iris redet weiter. Wisst ihr, dass ich schon mit Sechzehn aufgehört habe Fleisch zu essen. Wegen dem Gammelfleisch, damals. Egal. Wenigstens etwas Gutes hier, sagt sie und kippt die Bowle hinunter.
Schade dass der Sketch so kurz ist. Danach bringt Gabi das Essen.
Weißt du, sagt Iris, dass ich dich mag. Sie legt ihren Arm um mich. Du bist zwar spießig, aber ich mag dich. Mit mir wärst du sicher nicht so ein Spießer geworden.
Ich fühle mich sehr unwohl. Schatz schaut sie mit ihrem stechendstem Blick an, den sie auf Lager hat. Aber Iris scheint das nicht zu bemerken.
Wurstsalat. Ich möchte gerne aufstehen, und mir welchem vom Tisch holen. Aber Gabi bringt mir schon einen Teller voll mit einer Scheibe Brot. Iris lehnt sich an mich und schaut den Salat an. Sie fischt mit ihren Fingern ein paar Wurststreifen von meinem Teller und sagt:
Dafür mussten viele Tiere sterben.
Dann stopft sie die Streifen in ihren Mund und isst sie. Wir sind alle schockiert.
Iris!, ruft Gabi.
Na ja, schmeckt gar nicht schlecht, sagt sie. Was guckt ihr denn so? Seid doch nicht so spießig.
Sie kann kaum noch aufrecht sitzen und stützt sich weiterhin bei mir ab. Mit den Fingern nimmt sie sich immer neue Portionen Wurstsalat.
Gibt’s auch Brot?
Sie nimmt die Scheibe von meinem Teller.
Danke! Aber jetzt hast du ja nix mehr.
Mit den wurstsalatgetränkten Fingern streichelt sie mir über den Kopf.
Mühevoll schöpft sie sich Bowle ins Glas und trink es in einem Zug aus. Dann wendet sie sich zu mir und sagte:
Küsse meinen Erdbeermund.
Iris!, schreit Schatz. Aber das ist unnötig. Anstatt sich zu mir hinzubewegen kippt sie nach hinten weg, schließt die Augen und verfällt ins Koma. Betretenes Schweigen.
Sie hat wohl ein bisschen zu viel getrunken, stellt Frank fest.
Das wird sie uns nie verzeihen, sagt Gabi und schüttelt gedankenvoll den Kopf.
Niemals, pflichtet ihr Schatz bei.
Wieder Schweigen. Frank versucht die Runde aufzulockern:
Lasst uns auf sie anstoßen. Darauf, dass sie die Wurst gut verkraftet und einen Filmriss hat. Dann kann sie sich morgen nicht mehr daran erinnern.
Wir nehmen uns alle von der Bowle und stoßen auf sie an. Es ist jetzt kurz nach zehn. Iris liegt da und schnarcht. Schatz und ich stehen auf und legen ihre Beine auf das Sofa. Wir weichen auf die Sessel aus.
Soll ich noch eine Decke holen, fragt Gabi.
Geht schon, antwortet Schatz, hier ist es warm genug.
Wieder schweigen wir eine ganze Zeit. Wir stoßen noch einmal auf sie an.
Im Grunde, sagt Frank, hat sie ja recht.
Was meinst du?, frage ich.
Na ja, mit der Umwelt und so. Wir leben weit über unsere Verhältnisse.
Dieses Jahr haben wir uns nichts zu Weihnachten geschenkt, weil wir den Konsum-Terror nicht mehr mitmachen wollen.
Das meine ich nicht, sagt Frank, ich meine das mit dem Fleisch und dem Regenwald, der wird für Soja abgeholzt. Und das bekommen dann die Rinder und Schweine als Futter.
Ich esse ganz wenig Fleisch, meint Gabi.
Wir auch, wirft Schatz ein.
Wir joggen jetzt, sage ich, weil ich das Gefühl habe, es könnte etwas mit dem Thema zu tun haben.
Und das mit den Autos…, brummt Frank vor sich hin. Überall Staus. Wo soll das noch hinführen? Und die Wirtschaft stagniert.
Ist sowieso alles Schwachsinn mit dem grenzenlosen Wachstum, sagt Schatz. Bald gibt es nix mehr. Kein Öl, kein Lithium, kein Wasser. Keine Bienen. Alles futsch!
Wieder betretenes Schweigen. Die Uhr nähert sich elf.
Weißt du, sagt Gabi, wir hätten ja gerne Kinder, aber in dieser Welt.
Wir auch, sagt Schatz, aber welche Zukunft haben sie…
Jeder schaut vor sich hin.
Lasst uns trinken, versucht Frank wieder Stimmung zu machen, auf die Welt, auf dass sie besser wird. Auf dass es mehr Menschen wie Iris gibt.
Alle trinken ein Glas Bowle.
Wir haben ihr Unrecht getan, sagt Schatz und bekommt Tränen. Wir ziehen sie immer auf, mit ihrer Weltanschauung. Dabei ist sie die Einzige, die versucht etwas gegen die Umweltzerstörung zu tun.
Ja, schluchzt Gabi, sie ist eigentlich eine Heldin.
Das ist sie!
Schatz geht zu ihr hin und streichelt ihr über den Kopf. Iris gibt nur ein Grunzen von sich und schnarcht weiter.
Die Welt ist schlecht und wir sind auch nicht besser, sage ich und habe dabei ganz seltsame Gefühle. Auch mir kommen Tränen. Ich sehe rüber zu Frank, der sein Gesicht in den Händen versteckt. Ich stehe vom Sessel auf und gehe zu Schatz hin. Das ist alles andere als einfach. Der Boden kommt mir schief vor. Irgendwie schwankt alles.
Ein Erdbeben?, frage ich.
Nein, grunzt Frank, Erdbeeren.
Und Wodka, lallt Gabi.
Schatz kniet vor dem Sofa und streichelt Iris den Kopf.
Die Arme, hat Wurstsalat gegessen. Das ist schlimm.
Sehr schlimm, sage ich. Aber du darfst dir nicht die Schuld geben.
Wir sind alle daran schuld, tönt es aus der anderen Ecke, wo gerade Gabi liegt.
Ich umarme Schatz. Wir kippen beide auf den Boden.
Alles ist so schrecklich, höre ich Schatz noch sagen, dann schlafe ich ein. Irgendwann höre ich es knallen. Jetzt erschießen sie uns, denke ich Atomkrieg!
Wir schießen unsere Raketen nächstes Jahr ab, ganz bestimmt!