10 Juni 2021

Aufstand der Unsterblichen

Corona als Chance

Es wird immer mal wieder erwähnt: Die Coronakrise sollte man auch als Chance sehen. Oft ist damit ein Umdenken bezüglich unserer Ressourcen verbrauchenden Lebensweise gemeint. Wie steht es aber damit: Corona gibt uns die Chance, uns unserer Sterblichkeit bewusst zu werden.

Der Tod gehört zum Leben. Das hört man von allen coolen Zeitgenossen. Oft wird der Ausspruch von einem Schulterzucken und einem souveränen Blick begleitet. Wie ist es aber wirklich bestellt um das Bewusstsein, dass wir sterblich sind? Ein gutes Beispiel ist die Corona-Pandemie, die uns jetzt schon seit über einem Jahr mehr oder weniger quält. Von Anfang an wurde auf die Todesangst gesetzt. Und das funktioniert seit über einem Jahr prächtig.

Ich habe keine Angst vor dem Tod, nur vor dem Sterben

Gut, Todesangst hat jeder, selbst die, die behaupten: Vor dem Tod habe ich eigentlich keine Angst, nur vor dem Sterben, vor den Schmerzen und allem anderen, was damit einhergeht. Das lässt sich durch ein einfaches Gedankenexperiment widerlegen. Nehmen wir an, ich werde bedroht, jemand hält mir eine Pistole an den Kopf. Angst vor dem Sterben brauche ich in diesem Fall nicht zu haben. Denn wenn der Gangster abdrückt, werde ich tot sein, bevor ich es überhaupt merke. Denn das Gehirn ist zerstört, bevor es den Schmerz bewusst wahrnehmen kann. Ein schmerzfreies schnelles Sterben. Also? Bin ich deshalb in einer solchen Situation angstfrei? Wohl eher nicht. Was zu beweisen war! Todesangst kann man also bei jedem Menschen herauskitzeln.

Wie Schnee im Winter

Sterben ja, später vielleicht einmal. Warum jetzt Gedanken daran verschwenden? Wenn es so weit ist, bleibt noch genug Zeit dafür. Viele, die so denken, holt das Leben ein. Ein naher Mensch stirbt oder erkrankt schwer. Und plötzlich kommen sie, diese Gedanken. Es ist wie jedes Jahr im Winter. Alle wissen, um diese Jahreszeit ist es kalt und es könnte Schnee geben. Doch die Leute scheinen völlig überrascht zu sein, wenn es dann tatsächlich schneit. Jedes Mal bricht das Verkehrschaos aus, als hätte es nie vorher einen Winter gegeben. Zumindest ist das in Deutschland so. Ähnlich ist es auch mit dem Tod. Jeder weiß, dass es ihn gibt. Aber wenn dann im direkten Umfeld jemand betroffen ist, dann ist es, als wäre das alles ganz neu.

Die Unsterblichkeit in greifbarer Nähe?

Aber warum sich ängstigen? Die Menschheit hat so viel überwunden. Sie wird auch den Tod überwinden. Heute wird davon geträumt, in nicht allzu ferner Zukunft das Bewusstsein in einen Speicher hochladen zu können, um es dann eventuell in einen anderen Körper zu transferieren. Toller Gedanke, oder? Was für ein Weltbild steckt hinter solchen Träumen?

Was ist das Bewusstsein? Ist es wirklich die Gesamtheit der Datenströme in unserem Gehirn? Kann man es einfach in Nullen und Einsen überführen und abspeichern? Und was würde mit unserem Bewusstsein passieren, wenn es auf einem Speichermedium abgelegt werden würde. Wie wäre dann sein Empfinden? Wäre dieser Prozess der „Entkörperlichung“ fassbar, lebbar ertragbar? Was würde mit allem passieren, was uns nicht bewusst ist? Würde das auch übertragen werden? Ist es etwas, was wir gar nicht brauchen? Etwas, das uns nur ineffizient macht? Und wo ist der Sitz des Unter- oder Unbewussten?

Hätten Sie einen passenden Körper für mich?

Das zweite Problem, das dann auftauchen würde: Angenommen wir haben unser Bewusstsein tatsächlich auf einer Festplatte gespeichert, was soll denn nun damit passieren? Wird es in einen anderen Körper heruntergeladen? Aber das müsste ja ein Körper, ein Gehirn sein, das kein Bewusstsein besitzt, das quasi leer ist. Denn ansonsten würde ja die Gefahr bestehen, dass der jetzige „Inhaber“ doch noch irgendwie vorhanden ist, irgendwie die Oberhand behält. Oder man müsste eine Methode finden, den Vorbesitzer zu löschen. Dann würde das neue Bewusstsein in das Gehirn „aufgespielt“ werden.

Allein wenn ich über solche Träume nachdenke, läuft mir schon ein kalter Schauer über den Rücken. Nicht nur das Eingesperrtsein in einen Speicher. Allein die Vorstellung alle Gedanken, Gefühle, alle Verletzungen, alle Fehler, alle Erinnerungen mitnehmen zu müssen, lässt mich Erstarren. Gäbe es überhaupt noch die Möglichkeit eines Neuanfangs? Würde nicht die „Lebensprägung“ immer weiter bestehen. Welche Chance hätte man, jemals aus den eigenen „Gefängnissen“ herauszukommen? Oder gibt es tatsächlich Menschen, die keinerlei solcher Prägungen haben, die völlig frei sind von negativen einschränkenden Empfindungen?

Schon das Weltbild, das hinter all diesen Vorstellungen steht, halte ich für sehr eingeschränkt. Es ist mechanistisch, materialistisch und entspricht leider in vielen Teilen dem, was unsere heutige Medizin geprägt hat. Womit wir wieder beim Thema wären.

Sterben tun die anderen

Corona als Chance nutzen, sich der eigenen Sterblichkeit bewusst zu werden und sein Leben danach auszurichten. Was bedeutet das? Es bedeutet nicht, was jetzt vielleicht viele denken. Ich laufe nur noch depressiv durchs Leben. Ich weiß, dass am Ende eh alles vorbei ist. Ich bin mir darüber im Klaren, dass ich die Welt verlassen werde.

Wie müsste ein Leben, mein Leben aussehen, dass ich es als gut empfinde, wenn ich wüsste, dass ich morgen sterben werde? Aber auch: Was wäre bedeutungslos für mich. Wo halte ich mich jetzt an Vorstellungen, an Dingen fest, die bei dieser Perspektive keinerlei Wichtigkeit hätten?

Ich habe schon sehr viele Menschen auf den Weg in den Tod begleitet und bei fast allen kommt irgendwann der Punkt, an dem sie sich mit dem Thema Spiritualität befassen. Und das liegt nicht daran, dass sie Angst vor dem Tod haben. Es liegt an der Erfahrung, die sie machen, an der Grenzerfahrung.

Nun ist Spiritualität  ein großes Wort. Momentan wird es sogar von manchen verpönt. Es steht im Verdacht, genau wie Verschwörungstheorien, bizarre, krude Weltbilder vermitteln zu wollen. Es mag sein, dass manche Menschen eine sehr eigene Perspektive auf die Welt haben. Aber man muss sich diese ja nicht selbst zu eigen machen. Und ehrlich gesagt, das oben beschriebene Weltbild, in dem wir unser Bewusstsein irgendwohin „hochladen“, finde ich nicht weniger krude.

Viele verbinden mit Spiritualität Religion. Ja, die Religion kann ein Weg zur Spiritualität sein, aber sie ist nicht der einzige. Sie führt nur dann dorthin, wenn sie nicht nur als Regelwerk für das Verhalten im Leben gesehen wird. Sie führt dorthin, wenn sie den Blick öffnet für eine Welt, die wir nicht sehen können, die wir trotzdem wahrnehmen und erleben, die uns mit etwas Größerem verbindet.

Die Unsterblichen

Wir leben heute so, als wären wir unsterblich. Wir richten unser Augenmerk auf Materielles auf Vergängliches. Wir unterwerfen uns dem vollständig ohne auch nur innezuhalten und einmal darüber nachzudenken, was wir eigentlich wirklich wollen, weshalb wir leben. Das ist schade. Denn das Leben zwingt die meisten von uns, sich irgendwann mit genau diesen Fragen auseinanderzusetzen. Nur ist es dann oft schon zu spät und unsere Handlungsmöglichkeiten sind sehr begrenzt. Wäre es da nicht besser, sich früher mit der eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen? Ist das deprimierend? Nur dann, wenn man seinen Blick ausschließlich auf das Materielle richtet. Ansonsten gilt der Satz: Wirklich frei ist nur, wer sich seiner eigenen Sterblichkeit bewusst ist. Warum wird ausgerechnet im Hospiz nicht nur geweint, sondern auch sehr viel gelacht? Weil die Menschen nur noch eins haben – ihr Leben. Alles andere spielt keine große Rolle mehr. In gewisser Weise sind sie freier als wir. Sie werden sich auf ihrem Leidensweg bewusst, dass sie nur eine begrenzte Zeit haben. Diese Begrenzung macht ihre Zeit so wertvoll. Viel zu wertvoll, als dass man deren Gestaltung anderen überlassen sollte. Noch etwas anderes wird einem an der Grenze des Lebens bewusst: Das, was einem im eigenen Leben wirklich wichtig ist. Viele stellen in dieser Situation fest, dass es ganz andere Dinge sind als das, was man bisher für unabdingbar hielt.

Nie wieder so wie vor Corona

Klaus Schwab schrieb in seinem Buch The Great Reset, dass die Welt nie wieder so sein wird wie vor Corona. Vielleicht hat er damit recht. Vielleicht aber auf andere Weise, als er denkt. Vielleicht spüren die Menschen sich wieder selbst. Vielleicht erkennen sie, dass sie die ganze Zeit den falschen Zielen hinterherliefen. Vielleicht werden sie sich darüber bewusst, dass sie lediglich als Konsummaschinen benutzt wurden. Das wissenschaftliche Weltbild kann nur so groß sein, dass es in unsere Köpfe passt. Aber heißt das, es gibt nicht mehr? Heißt das, das ausgedehnte Seelenleben unserer Vorfahren war nur Humbug und wir sind heute die Schlauesten und Klügsten? Es gab in der Geschichte schon viele Generationen, die genau das von sich gedacht haben und deren Überheblichkeit dann vom Leben zurechtgestutzt wurde.

Also ihr Unsterblichen da draußen, habt keine Angst vor dem SarsCov2-Virus. Sorgt euch lieber darum, ob ihr das tut, was euch erfüllt. Denn nicht nur das Virus bedroht euer Leben, an jeder Ecke lauern Gefahren. Und wenn euch eine dieser Gefahren erwischt, dann solltet ihr doch wenigstens sagen können: Ich habe in meinem Leben das getan, was mir wichtig war.


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Verfasst 10. Juni 2021 von Simon in category "Neue Normalität", "Synapsenakrobatik

1 COMMENTS :

  1. By Fred Lang on

    Zitat: „Ich habe in meinem Leben das getan, was mir wichtig war.“
    Ich hoffe sehr, dass ich das an meinem Lebensende so sagen kann.
    Vielen Dank für die nachdenklich machenden Überlegungen!

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