Paranoia und Sachertorte (17)
Meine Eltern sind zu Besuch. Wir hocken am Esstisch.
Und das ist wirklich erlaubt? fragt Mama.
Klar. Personen aus zwei Haushalten dürfen sich treffen, erkläre ich ihr.
Schön dass ihr da seid, sagt Schatz und gießt Kaffee ein.
War ja auch mal Zeit, sagt Papa, nachdem ihr uns letztes Jahr an Weihnachten versetzt…
Das war das schrecklichste Weihnachten überhaupt, unterbricht ihn Mama, ich hätte beinah geheult. Und jetzt ist schon bald wieder Weihnachten. Wie schnell doch die Zeit vergeht.
Dieses Jahr, sage ich, wird es vielleicht noch viel schlimmer, weil jeder zu Hause feiern muss.
Versteht ihr euch gut mit euren Nachbarn? Nicht das die euch anzeigen, weil hier so viele Leute sind.
Wir sind zu viert, sage ich. Beruhige dich Mama! Zu Papa gewandt sage ich: Tobias unser Nachbar hat ein tolles Smartphone. Damit kann er sogar die Kameras in der Wohnung steuern.
Die haben Kameras in eurer Wohnung, ruft Mama schrill.
Nein, die haben welche in ihrer eigenen Wohnung.
Hat er dafür so ne App, fragt Papa.
Ja. Und die Heizkörper steuert er und er kann sich Serien darüber anschauen.
Über die Heizkörper?, fragt Mama.
Über das Smartphone, rufen Papa und ich fast gleichzeitig.
Revolutionär, diese Technik von heute, sagt mein alter Herr.
Du warst schon immer ein kleiner Revolutionär, sagt Mama und lächelt. Das war er schon immer, wendet sie sich an Schatz.
Er? Ein Revolutionär? Schatz sagt das mit einem gewissen ironischen Unterton, der mir gar nicht gefällt.
Ob du es glaubst oder nicht. Als Kind hat er sich immer die Windel ausgezogen und in die Ecke gekackt.
Mama, protestiere ich.
Ist doch so. Schon damals bist du gegen den Strom geschwommen. So ist er heute noch.
Wenigstens kackt er nicht mehr in die Ecke, murmelt Schatz.
Wenn ich dran denke, als er klein war, schwärmt Mama weiter. Er war so ein süßes Baby.
Er hatte eine Glatze, krumme Beine und einen krummen Rücken, sagt Papa, das habe ich jetzt auch. Und trotzdem nennt mich niemand süß.
Ach du, winkt Mama ab und nimmt sich ein Stück von der Sachertorte. Schön ist sie geworden, wendet sie sich wieder an Schatz. Wusste gar nicht, dass du backen kannst.
Kochen kann ich auch.
Na ja, in deinem Chili vor drei Jahren war zu viel Pfeffer.
Chili con Carne heißt deshalb so, weil da Chili drin ist, verteidigt sich Schatz. Sonst würde es nur con Carne heißen.
Ist ja egal. Du kannst es ja noch lernen. Ich habe auch erst richtig kochen gelernt, als ich Werner heiratete. Ihr solltet heiraten und Kinder kriegen.
Damit ich kochen lerne? fragt Schatz sarkastisch.
Wir wollen noch warten, schreite ich ein, um eine Eskalation zu vermeiden. Warum müssen Mütter immer so peinlich sein? denke ich.
Irgendwann ist es zu spät. Zu Schatz meint sie: Irgendwann ist deine biologische Uhr abgelaufen. Du bist ja auch nicht mehr die Jüngste.
Schatz sucht völlig konsterniert nach Worten. Findet aber keine.
Eigentlich wären wir ja dran an Weihnachten. Aber da es letztes Jahr bei euch nicht geklappt hat, sollten wir darüber nachdenken, doch noch einmal bei euch zu feiern, redet Mama weiter.
Wir müssen erst einmal abwarten, ob Feiern überhaupt erlaubt ist, meint Papa. Er hat gerade sein drittes Stück Sachertorte gegessen.
Na komm Maunzi Maunzi, kriegst auch einen Happen, sagt Mama zu Taliban, der sich unter dem Tisch die optimale Position gesichert hat, um herunterfallende Krümel aufzulecken. Sie wirft ihm ein Stückchen Torte hin. Unser Kater verschlingt es begierig.
Das ist nicht gesund für Katzen, sagt Schatz.
Ach, du redest schon wie die im Fernsehen. Das ist nicht gesund und das ist nicht gesund. Und jetzt noch mit diesem Corona. Da ist es nicht einmal mehr gesund, mit anderen Menschen Kontakt zu haben. Vor kurzem haben sie sogar gesagt, dass Corona von Haustieren übertragen wird.
Stimmt das? frage ich.
Die übertreiben doch immer, sagt Mama. Komm Maunzi Maunzi, ich habe noch ein bisschen.
Er heißt Taliban, sage ich.
Wie kommt ihr auf den Namen. Der würde eher zu einem Zug passen.
Ist uns so eingefallen.
Wollen wir Bares für Rares schauen?, fragt Papa, der sich offensichtlich langweilt.
Heute ist Sonntag, sage ich. Da kommt das nicht.
Terra X?
Dafür ist es noch zu früh.
Was kommt denn sonst noch?, fragt er.
Wintersport.
Gibts den denn trotz Corona?
Ja.
Na dann. Wir stehen alle auf und setzten uns auf Sofa und Sessel.
Kurz vor dem Bericht aus Berlin verabschieden sich meine Eltern
Wir haben noch ein Stück zu fahren, sagt Mama.
Ihr wohnt vierzehn Kilometer weg, sage ich.
Eben. Früher musste man die Strecke laufen.
Noch haben wir ein Auto, sagt Papa.
Ich glaube, wir feiern Weihnachten dieses Jahr alleine, sagt Schatz als sie abgefahren sind.
Oder wir laden deine Eltern ein, schlage ich vor.
Das meinst du nicht im ernst, oder?
Eine echt gelungene Kurzgeschichte! Spannungsgeladener Kontrast von Trockenheit und Humor – macht Spaß beim Lesen, freue mich auf die nächste!
Bei den fehlenden Anführungszeichen muss ich noch überlegen, ob ich es praktisch finde. Zwar passt es gut zum Stil insgesamt, sozusagen als künstlerisches Ganzes, aber zum Lesen ist es mühsamer. Fazit: Am besten liest man es sich vor, nimmt das gleich auf und hört es dann, so fallen einem die fehlenden Dingens nicht auf. Raffiniert, gell?
Herzliche Grüße
Martin